Allgemein, Coaching | 24. Februar 2015

Der Rückzug ins Private – Transformation oder Kapitulation?

Alle wollen gärtnern, zur Ruhe kommen, gemeinsam meditieren oder kochen. Garten und Wohlfühl-Magazine wie Landlust oder Essence finden große Abnehmerzahlen. Das Engagement in Vereinen, Parteien oder Gewerkschaften geht zurück. Warum ist das so?

Manchmal habe ich den Eindruck, als wollten wir am Liebsten vom Kinderzimmer direkt in den Ruhestand hinüberwechseln: Yoga, Achtsamkeit, Natur und Ruhe, Basteln, Häkeln, Stricken. Nichts, was ein Rentner nicht auch schaffen würde! Das Leben zwischen Krippe und Schaukelstuhl: Ein Tal der nur mühsam zu überwindenden Anstrengung und Selbstoptimierung, von dem wir andauernd und in steigendem Maße Erholung brauchen!

Wir arbeiten nicht mehr, eher weniger als die Elterngeneration. Anstatt der tatsächlichen Arbeitslast ist es viel stärker ein inneres Kämpfen und Ringen, das uns erschöpft. Es sind unsere Ansprüche und Werte, die nicht mehr mit der Realität zusammenpassen. Wir sind groß geworden mit dem Anspruch auf finanzielle und gesellschaftliche Abgesichertheit. Nun reicht das Einkommen kaum noch, um Kinder, Wohnung und eine sinnvolle Rente zu finanzieren. Gleichzeitig beobachten wir, wie eine kleine Schicht sehr Wohlhabender an der Mittelschicht vorbei gezogen ist und unerreichbar scheint – im finanziellen wie auch im politischen Sinne. Wollen wir diese Gesellschaft so, müssten wir uns da nicht für soziale Gerechtigkeit politisch engagieren? Das denken viele. Aber gleichzeitig haben wir auch diesen Anspruch mitbekommen, dass wir etwas ganz Besonderes sind, wir haben ein Recht auf persönliches Wachstum, eine Arbeit die Spaß macht, ein Recht auf Reisen und „Zeit für sich“. Und das scheint in unseren Köpfen nicht zusammenzugehen mit politischem Engagement.

Flüchtlinge und Kriege, Klimawandel – nicht allein die Herausforderungen machen uns müde, vielmehr ist es das Entscheidungs-Dilemma, was darin verborgen ist.

Denn wollen wir unseren Anspruch auf persönliche Entwicklung und Wachstum erhalten, müssen wir scheinbar wichtige Werte wie Fairness und Nachhaltigkeit über Bord werfen. Oder wir entscheiden uns zum Engagement, dazu, an dieser Welt aktiv gestaltend mitzuwirken. Nur riskieren wir dann evtl. finanzielle Sicherheit und haben keine Zeit mehr für uns selbst. In diesem Sinne könnte der Rückzug ins Private als eine reine Ausweichbewegung verstanden werden, als ein Nicht-Konfrontieren mit der Realität. – so beschrieb es auch im Artikel von Julia Friedrichs in Der Zeit (Link siehe unten).

Eine andere Lesart wäre, den Rückzug ins Private als Zeichen für eine Transformation zu interpretieren. Der aktuell zu beobachtende Rückzug ist in diesem Bild eine Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte. In dieser Phase stärken Menschen in vielen Gruppen und Initiativen ihre Fähigkeiten, Dinge wieder selber zu gestalten und sich zu organisieren, Dinge gemeinsam anzugehen. Sie erfahren ihre eigene Wirksamkeit. Dass viele der Initiativen dabei einen ökologischen oder sozialen Aspekt haben, ist ein gutes Zeichen. Wir sind wie die Raupe, sie sich kunstvoll einen Kokon spinnt, Kräfte sammelt, wächst – das kostet viel Kraft, aber wenn sie diese Zeit bekommt, wenn sie innerlich die Prozesse durchlaufen kann, die notwendig sind, dann kann am Ende daraus ein Schmetterling werden. Die Konfrontation, die in uns abläuft, hat viel mit Sinn zu tun. Es geht vielleicht darum, in unserem inneren Selbstbestätigungs-Kosmos kurzweiligen Spaß durch andauernde Freude zu ersetzen. Die Art von Freude, die entsteht, wenn wir uns mit anderen gemeinsam für die Werte einsetzen, die wir nicht verlieren wollen. Die Freude, die entsteht, wenn wir für etwas kämpfen, weil wir wissen, dass es richtig ist.

Hier der Link Artikel von Julia Friedrichs in der Zeit: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/entschleunigung-biedermeier-handarbeit-stressabbau