Coaching | 2. September 2014

Ist Coaching neoliberal? Selbstoptimierung statt Systemwandel.

Ich unterstütze als Coach Menschen dabei, besser mit schwierigen Situationen oder Entscheidungen zurechtzukommen, zufriedener oder auch erfolgreicher zu sein. Das hört sich doch erstmal gut an, oder?

Ich bin da seit kurzem verunsichert. Schuld sind mein Freund Martin* (der gerade im Allgäu gärtnert) und der Philosoph Byung-Chul Han , (der an der HdK Philosophie und Kulturwissenschaften lehrt).

Burn-Out und Revolution schließen sich aus 

Zuerst legt der Philosoph Byung-Chul Han nachvollziehbar nahe, dass wir uns unter dem Namen der Freiheit und Selbstverwirklichung kommerzialisiert und politisch entmündigt haben. Wir vermarkten und vermieten, offenbaren,vernetzen und mit-teilen uns total, marktwirksam und minutengenau. Da wir uns frei wähnen, da unsere Wünsche scheinbar erfüllt werden, da kein „unterdrückender“ Gegner wahrnehmbar ist, interpretieren wir Scheitern und Missstände darüber hinaus stets als persönliches Versagen, nicht aber als Systemfehler. Und deshalb kriegen wir einen Burn-Out und gehen zum Coach – und ich bediene eben dieses Bedürfnis. Han schreibt zur Grundsituation – die ich bestätigen würde: „Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. … Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt der Gesellschaft. … Diese absolute Konkurrenz erhöht zwar die Produktivität enorm, aber sie zerstört Solidarität und Gemeinsinn. … Heute stürzen wir uns mit Euphorie in die Arbeit bis zum Burn-Out. Die erste Stufe des Burn-Out ist eben die Euphorie. Burn-Out und Revolution schließen sich aus.

Helfe ich also mit Coaching möglichweise dabei, eine angesichts der ökologischen und sozialen Missstände vielleicht notwendige Veränderung zu verhindern? Und nicht nur das, auch spirituell habe ich mich hinterfragen müssen:

Selbsterfahrung als Mittel zum Zweck

Mein Freund Martin teilte mir mit, dass für ihn der Ansatz, sich in Trainings oder Coachings zu „optimieren“ nicht stimmt – denn er setzt ein zu optimierendes Defizit voraus. Im widerstrebt „das Gefühl, daß man ‚etwas sein sollte‘ um beruflich erfolgreich zu sein und dafür meditiert oder sich mit seinem Körper auseinandersetzt.“ Er findet es wahrer, „zu meditieren und seinen Körper zu entdecken, um den Stress und den Alltag ’nicht mehr so Ernst‘ zu nehmen anstatt ihn ‚besser bewältigen‘ zu können.“ Ich war erstmal etwas irritiert, mir schien dass eine eher elfenbeinturmhafte Haltung, die doch an der Realität der Menschen etwas vorbei geht, auch wenn es vielleicht spirituell wahr ist. Oder ist da doch etwas dran und schüre ich nicht mit meinen Angeboten eine Weltsicht, die individuelle Selbstverwirklichung und Erfolg zu den neuen Götzen erklärt, denen wir nie genügen können?

Und was mache ich jetzt in meinem Coaching?
Es wäre gelogen zu sagen, dass mein Denkprozess hier abgeschlossen ist. Aber ich empfinde es als gute Unruhe, meine unbewussten Werte und gesellschaftlichen Leitbilder zu hinterfragen, für die ich stehe und die ich vermittle. Als erste Konsequenz habe ich mir vorgenommen, selber mehr zu schauen,wo ich Selbstdarstellung und Selbstoptimierung dem Aufbau von Vertrauen, gemeinschaftlicher Solidarität und gesellschaftlichem Engagement vorziehe. Im Coaching möchte ich stärker dazu anregen, sich zu fragen, ob wir mit unseren Schwierigkeiten tatsächlich alleine sind. Oder ob es Kollegen, Freunde oder solidarische Gemeinschaften gibt, die uns darin unterstützen können, unsere Umwelt zu verändern – anstatt uns selbst.

Wie geht es Ihnen und Euch – besonders anderen Coaches – mit dieser Frage? Ich freue mich über Antworten und Anregungen.

Der Artikel von Byung-Chul Han ist am 1. September 2014 in der Süddeutschen Zeitung erschienen unter dem Titel: „Kommunismus als Ware – Warum heute keine Revolution möglich ist“ (S.11)

*Name geändert